In disruptiven Zeiten werden Lernansätze, die das Wissen der Mitarbeitenden stetig erweitern und das Lernen im Arbeitskontext fördern, immer wichtiger. Ein wirksames Instrument zur gezielten Nachwuchskräfteförderung und Führungskräfteentwicklung, insbesondere unter dem Aspekt des lebenslangen Lernens, ist das Reverse Mentoring. Wie es funktioniert und welche Bedeutung es für Mitarbeitende und Unternehmen mit Blick auf die zukünftige Arbeitswelt hat, haben wir Dr. Nicole Behringer gefragt, die als Hochschullehrerin für Wirtschaftspsychologie an der ISM Stuttgart tätig ist und den Masterstudiengang für Medien- und Kommunikationspsychologie im ISM Fernstudium leitet.


Nicole, was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Reverse Mentoring?

Beim klassischen Mentoring teilt ein erfahrenerer Mitarbeiter (Mentor) sein Wissen und seine Erfahrungen mit einem weniger erfahrenen Kollegen (Mentee). Reverse Mentoring berücksichtigt hingegen, dass auf beiden Seiten der Mentoring-Beziehung Kompetenz- und Wissenslücken bestehen, sodass auch der Mentor von den Erkenntnissen des Mentees profitieren kann. Dies macht natürlich insbesondere in Kontexten Sinn, in denen der Mentee mehr Erfahrung hat als der Mentor – also zum Beispiel bei digitalen Kompetenzen.


Was genau sind die Vorteile des Konzepts für die Teilnehmenden?

Die Vorteile auf beiden Seiten werden vielleicht an einem Beispiel deutlich: Stellen wir uns vor, Peter (38 Jahre alt, Teamleiter im Bereich Business Development) wird Mentor von Janine, die gerade im 3. Semester International Management studiert. Die beiden treffen sich oder telefonieren etwa alle drei Monate und tauschen sich aus. Janine treiben Fragen um wie: Soll ich mein Praktikum eher hier oder dort machen? Welche Kompetenzen sollte ich ausbauen, um mich für diesen oder jenen Job zu qualifizieren? Peter kann ihr dazu wertvolle Impulse geben. Im Gespräch nutzt Janine ihr Tablet, auf dem sie Sketchnotes vorbereitet hat, um ihre Themen zu visualisieren. Peter hat noch keine Erfahrungen mit Sketchnoting Programmen und so zeigt Janine ihm ein paar Tipps und Tricks, die Peter wunderbar bei seiner Arbeit wieder einbringen kann. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass sich Vorteile auf beiden Seiten ergeben – und genau dieser Aspekt ist vielen Mentoren gar nicht so bewusst.



Sich als Mentor oder Mentorin zu engagieren, ist eine bereichernde Erfahrung, an der man selbst wachsen kann.




Einige Unternehmen wie Bosch oder Henkel haben Reverse Mentoring bereits erfolgreich in ihr Lernkonzept integriert. Inwieweit profitieren Unternehmen von einem Reverse Mentoring-Programm?

Ich denke, die meisten Unternehmen implementieren ein Reverse Mentoring Programm, um die digitalen Kompetenzen ihrer Führungskräfte zu stärken. Dies wird vielleicht wieder am besten anhand eines Beispiels deutlich: Stellen wir uns einmal Thomas vor, der vor kurzem die Leitung der Rechtsabteilung übernommen hat. Er begleitet in seiner Rolle als Mentor Tim, der gerade den Berufseinstieg geschafft hat im Bereich Customer Service. Thomas ist durchaus bewusst, dass er in Sachen virtueller Zusammenarbeit Nachholbedarf hat, aber in seiner Position wird er sich kaum die Blöße geben, diese Kompetenzlücke zu zeigen. In der Tandembeziehung mit Tim kann er sich viel leichter öffnen und gezielt nachfragen, wie er das Whiteboard von MS Teams noch besser nutzen kann für die Zusammenarbeit in Online Meetings. Vertrauen und Diskretion sind aus meiner Sicht wichtige Erfolgsfaktoren für das Gelingen von Mentoring.

Reverse Mentoring hat sich in den vergangenen Jahren als ein wirkungsvolles Instrument der gezielten Nachwuchsförderung und Führungskräfteentwicklung erwiesen. Wenn die Tandems aus Mentor und Mentee gezielt ressortübergreifend zusammengestellt werden, kann Reverse Mentoring einen Beitrag leisten, Silodenken aufzubrechen. Gleichzeitig erweitern sich die persönlichen Netzwerke beider Beteiligten. Lernen und Weiterentwicklung integrieren sich auf natürliche Weise in den Arbeitskontext.


Wenn wir diesen Ansatz nun im Kontext unseres ISM Mentoring-Programms betrachten, welche Vorteile ergeben sich für unsere Alumni, die sich als Mentoren engagieren?

Lebenslanges Lernen gewinnt zunehmend an Bedeutung und ein Engagement als Mentor ist eine tolle Gelegenheit, die eigenen Kompetenzen zu stärken. Darüber hinaus tauchen die Alumni wieder in die Hochschulwelt ein und lernen im Dialog mit ihrem Mentee die heutigen Rahmenbedingungen, Wünsche und Bedürfnisse von Studierenden kennen und können diese Erfahrungen in der Rekrutierung und Betreuung von Nachwuchsführungskräften im beruflichen Umfeld einbringen.


Welche Voraussetzungen sollten Mentoren für das Reverse Mentoring mitbringen?

Neben einer gewissen Offenheit und Neugier ist die Bereitschaft wichtig, etwas Zeit und echte Motivation zu investieren. Und das ist aus meiner Sicht auch der Knackpunkt – die Zeit. Ich bin mir sicher, der ein oder andere Alumni würde sich sehr gerne engagieren, fürchtet aber, das nicht unterzukriegen in dem sowieso schon vollen Arbeitstag. Hier ist es wichtig, von Beginn an auf beiden Seiten Transparenz herzustellen was die Erwartungen und zeitlichen Möglichkeiten anbelangt.

Mentoren müssen keine professionellen Coaches sein. Vielmehr ist vor allem die Fähigkeit zur Empathie, zum Zuhören und Nachfragen, zum Eingehen auf den individuellen Weg des Mentees gefragt. Es geht vor allem um Hilfe zur Selbsthilfe. In der Rolle des Mentors ist man nicht in der Lösungspflicht für die Anliegen des Mentees. Es geht vielmehr um einen Austausch auf Augenhöhe und eine wechselseitige Bereitschaft zum Lernen und zur Diskussion.


Welche Erfahrungen haben Sie selbst bereits mit Reverse Mentoring machen können?

Ich selbst habe vor einiger Zeit als Mentorin am Mentoring-Programm FeelScience der Universität Stuttgart teilgenommen und eine Doktorandin über einen Zeitraum von 2 Jahren begleitet. Das war eine sehr bereichernde Erfahrung für mich, da ich frische Einblicke gewinnen konnte in aktuelle Themen im Bereich psychologischer Forschung und Lehre. Wir tauschten uns regelmäßig aus und sind sogar noch heute über das Mentoring-Programm hinaus in Kontakt. Ich kann das jedem Alumni nur ans Herz legen, diese Erfahrung auch einmal zu machen. Hören Sie nie auf, zu lernen!




Zur Person

Dr. Nicole Behringer ist Hochschullehrerin für Wirtschaftspsychologie am ISM Campus in Stuttgart. Sie studierte Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und promovierte am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM). Bevor sie an die ISM kam, sammelte sie internationale Praxiserfahrungen in den Bereichen Sales und Marketing Training und Personal- und Organisationsentwicklung bei Hugo Boss, Porsche und Daimler Mobility. Als agiler Lerncoach und Lernarchitektin ist es ihre Leidenschaft, Lernformate zu entwickeln, die Spaß machen und begeistern.