Der digitale Wandel verändert nicht nur unseren Arbeitsalltag, sondern auch die Art und Weise, wie wir in Zukunft lernen werden. Laut Kienbaum-Studie erfordern neue Tätigkeiten den Mitarbeitenden bereits in den kommenden fünf Jahren neue Kompetenzen ab, um den Skill-Gap in Unternehmen zu schließen. Wie das Lernen der Zukunft aussehen kann und welche Arbeit dabei auf Unternehmen zukommt, haben wir ISM Alumna Anina Senftleben gefragt. Als Global Learning Expert gibt sie Einblicke in das Corporate Learning von Evonik und weiß, welche Anforderungen an Mitarbeitende zukünftig von Bedeutung sind.


Anina, als Global Learning Expert hast du zuletzt die Digitalisierung der Führungskräfteprogramme begleitet. Wie sieht deine Tätigkeit genau aus?

Mein bisheriger Aufgabenbereich fokussierte sich auf die Überarbeitung der Entwicklungsprogramme. Die Programme zeichnen sich durch die Kombination aus (virtueller) Präsenz, Peer Learning und digital implementierten Selbstlernphasen aus. Innerhalb dieser können sich die Teilnehmenden entlang der sogenannten Learning Journey Inhalte in Eigenregie aneignen, hilfreiche Anreize für das gemeinsame Lernen erhalten und sich auf die (virtuellen) Präsenzphasen vorbereiten, in denen die Vertiefung und Erprobung des Gelernten erfolgt. Parallel wurde unsere vorhandene learning experience platform (LXP) um einen Bereich erweitert, der sich gezielt an Führungskräfte richtet. Der sogenannte LeaderShop stellt den Führungskräften in Form von kurzweiligen Videos bis hin zu umfangreicheren digitalen Lernreisen hilfreichen Input zu diversen Fragestellungen aus dem Führungsalltag bereit. Diesen habe ich bis dato verantwortet und werde ihn nach und nach an KollegInnen übergeben, da mein Aufgabenbereich seit Kurzem im Bereich der Learning Governance & Analytics liegt. Dieses kleine Team wurde jüngst gegründet und wir werden, sehr kurzgefasst, gemeinsam daran arbeiten, das konzernweite Learning systematisch zusammenzubringen, mitzugestalten und natürlich auszuwerten.


Wodurch zeichnet sich Corporate Learning bei Evonik aktuell aus?

Etwas allgemeiner gesprochen lässt sich Corporate Learning bei Evonik aktuell insbesondere durch den Wandel zu digitaleren Lernlösungen und dem Selbstlernen beschreiben. Bestandteile dessen sind u. a. der vermehrte Einsatz von virtuellen Präsenz- und online Selbstlernphasen.

Einer der zahlreichen Treiber dieser Entwicklung ist die Leadership and People Development Academy, unser Team für klassische PE-Themen, die allgemeine Personal- und Führungskräfteentwicklung. Aus diesem Team heraus werden die eingangs erwähnten Entwicklungsprogramme, äquivalente Formate für produktionsnahe Laufbahnen, aber auch kurzweiligere Angebote, wie etwa zum Führen schwieriger Gespräche, konzipiert und begleitet. 

Daneben agieren zahlreiche verschiedene Fachakademien und Bereiche, etwa für IT, Marketing oder Verfahrenstechnik, welche natürlich auch einen großen Anteil zum skizzierten Wandel beitragen. Unabhängig des Fachbereiches ist unser Digital Learning Team ein wichtiger Bestandteil, welcher unter anderem interne Kunden hinsichtlich möglicher virtueller Lernformate berät und diese gemeinsam mit den Bereichen umsetzt, die konzernweite LXP betreibt aber auch vielversprechende neue Systeme einführt. 


Die Anforderungen an und von Mitarbeitenden haben sich in den letzten Jahren gewandelt. Wie nehmt ihr dies bei Evonik wahr und wie reagiert ihr darauf?

Ein Hauptaspekt, der mir hierzu direkt in den Sinn kommt, ist „Content is King“ in Kombination mit der Erwartungshaltung, das Gesuchte unmittelbar abrufen zu können: sind die Inhalte, die man aufgrund einer aktuellen Fragestellung sucht, im „moment of learning need“ nicht abrufbar oder im Ansatz ansprechend gestaltet, werden wir weder der Belegschaft noch unserer Lernstrategie gerecht: die Steigerung der Performance sowie die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden zu ermöglichen. Kommt man etwa während der Arbeit mit einer Software nicht weiter und muss erst lange nach einer Erklärung suchen oder gar auf einen Schulungstermin warten, kann sich das negativ auf die Produktivität auswirken. Dementsprechend arbeiten wir daran, den Mitarbeitenden den Zugang zu potenziell hilfreichen Inhalten zu erleichtern und sie zum selbstgesteuerten Lernen zu ermutigen bzw. hierbei zu unterstützen.

Im Bereich unserer LXP erhalten wir von den Mitarbeitenden aus erster Hand Feedback, indem sie Ressourcen wie Videos und lesbare Dokumente bewerten oder im Rahmen von Learning Journeys den Lernbegleitern Feedback geben, beziehungsweise dies in der Plattform festhalten.

Ebenso sind die Mitarbeitenden es gewohnt, sich über Netzwerke auszutauschen. Die Bedeutung und den Stellenwert des informellen und abteilungs- sowie hierarchieübergreifenden Austausches erleben wir täglich in Projekten, Initiativen wie Barcamps oder in der Anwendung agiler Herangehensweisen. Im Konzern wird diese Form des (Wissens-) Austausches zusätzlich durch das Enterprise Social Network, in dem sich zu diversen Themen Gruppen und Netzwerke bilden, gefördert. Darüber hinaus ist die Evonik Lernstunde ein großartiges Beispiel. Ein- bis zweimal pro Woche informieren Mitarbeitende die Belegschaft mittels Live Session über ihre aktuellen Themen, Fachgebiete, umfangreichen Projekte oder auch allgemeinen Themen aus dem Berufsalltag.



Ich bin davon überzeugt, dass der Wille und die Fähigkeit, stetig weiterlernen zu wollen, eine der Schlüsselfähigkeiten sein wird - unabhängig von Fachbereich, beruflicher Ambition oder Tätigkeit.



Worauf kommt es zukünftig bei Mitarbeitenden an? Welche Lern-Skills werden notwendig?

Diese Frage möchte ich ungern zu spezifisch beantworten - dafür ist die Arbeitswelt einfach zu dynamisch und vielseitig. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass der Wille und die Fähigkeit, stetig weiterlernen zu wollen, eine der Schlüsselfähigkeiten sein wird - unabhängig von Fachbereich, beruflicher Ambition oder Tätigkeit.

Durch schulische, berufliche, universitäre und andere formelle Bildungswege verlernen wir, wie im besonders lernstarken Kindesalter, „einfach mal auszuprobieren“ und verlassen uns auf einen vorgegebenen Lehrplan. Vereinfacht bedeutet das als Pendant im Bereich Corporate Learning, dass man z. B. auf einen Platz im nächsten Termin eines vierstündigen Seminars zum Thema Feedback-Techniken warten würde, anstatt sich hilfreiche Inhalte und Input selbst rauszusuchen und anzueignen. Kurzum, wir wollen die Mitarbeitenden dabei unterstützen, das Lernen wieder zu lernen bzw. „umzulernen“. Es wird nicht darum gehen, dass Mitarbeitende zukünftig keine Lern- und Entwicklungsmaßnahmen mehr erhalten werden, sondern darum, dass sie erst einmal selbst tätig werden und so im bereits erwähnten „moment of learning need“ handlungsfähig bleiben. Im Umkehrschluss bleibt so mehr Zeit und Budget für komplexere Entwicklungsthemen oder thematische Vertiefungen verfügbar. Intern sprechen wir hierzu mit Blick auf das Growth Mindset und dem Bewusstsein, dass wir nie ausgelernt haben werden vom #LifeLongLearning. Darüber hinaus sehe ich im „gesunden“ Umgang mit Veränderung und Ungewissheit eine äußerst relevante Fähigkeit. Mit gesund meine ich an dieser Stelle, dass man z. B. in Veränderung letztendlich eine Chance und nicht die Bedrohung der vertrauten Komfortzone sieht.   


Was wird sich in den nächsten Jahren im Bereich Corporate Learning verändern?

Für die folgenden Jahre sehe ich insbesondere folgende Hebel für Corporate Learning: Daten, Rollenwandel HR und Lernkultur.

Daten: Eine Veränderung, die wir bei Evonik nun von den Kinderschuhen an begleiten und aktiv gestalten, ist eine deutlich datenbasiertere Herangehensweise an das Thema Learning. Wir arbeiten daran, eine bis dato dezentralere und komplexere Systemlandschaft näher zusammenzubringen und die verschiedenen Reportings „aus einer Brille“ zu analysieren. Dies wird es uns unter anderem ermöglichen, strategische Handlungsempfehlungen für das zukünftige Learning Portfolio auszusprechen.

Dank umfangreicherer und gezielt(er) ausgewerteter Daten wird es dem Corporate Learning in den kommenden Jahren leichter fallen, den Mehrwert von Bildungs- und Weiterentwicklungsangeboten anhand von quantitativen und qualitativen KPIs zu verdeutlichen.

Rollen: Auch auf die Gefahr hin, dass es keine Neuigkeit sein wird: die klassische HR-Funktion wandelt sich. Anhand des Bereichs Learning wird insbesondere deutlich, dass die Rollenprofile technischer, aber auch weniger stringent abgegrenzt werden. So wird etwa die Trainingsadministration, die bis dato inhouse gehandhabt wurde, zunehmend ausgelagert. Dies ermöglicht es den KollegInnen dann, sich auf der strategischeren Ebene mit den tatsächlichen Inhalten der Trainingswelt oder der Begleitung der Lernenden auseinanderzusetzen. In diesem Sinne verstehen wir uns bei Evonik als Lern-Architekten und -Enabler.

Lernkultur: Eine Herausforderung kultureller Art sehe ich im Corporate Learning in der Wahrnehmung von Trainings, die nun deutlich digitaler oder sogar vollständig digitalisiert angeboten werden. Das traditionelle 3-Tage-im-Hotel-inkl.-Verpflegung-Training mag in der Vergangenheit den Beigeschmack von Incentive und implizierter Wertigkeit gehabt haben. Hier sehe ich Corporate Learning gefordert, den Wandel aktiv zu begleiten, die Bedenken der Mitarbeitenden ernst zu nehmen und die Vorteile der digitalen Varianten bewusst zu kommunizieren. Durch das Wegfallen der hohen Präsenzanteile fehlen wertvolle Vernetzungsgelegenheiten, die auch durch gut moderierte Online Sessions nicht 1:1 ersetzt werden können. Hier sehe ich ein wertvolles Potential für neue Formen und Anlässe von Netzwerkveranstaltungen, die durch Corporate Learning initiiert werden können: der Wissensaustausch und die -vermittlung wird nicht mehr durch HR vorgegeben, vielmehr werden Rahmenbedingungen dafür geschaffen. 


Liebe Anina, vielen Dank für die spannenden Einblicke in das Lernen der Zukunft und deine Arbeit als Global Learning Expert bei Evonik.

  



Zur Person:

Anina Senftleben hat 2018 ihren Masterabschluss gemacht. Bereits während ihres Psychology & Management Studiums war für Anina klar, dass sie in der Konzernwelt durchstarten möchte. Anfang 2019 hat sie diesen Plan in die Tat umgesetzt und ist als HR Trainee bei Evonik eingestiegen. Seit 2020 ist sie nun als Global Learning Expert tätig und hat maßgeblich an der digitalen Weiterentwicklung der Führungskräfteprogramme mitgewirkt.